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Alle Illustrationen wurden mit Canva-Pro etstellt.
Im Jahr 2002, als ich erstmals an einer öffentlichen Grundschule eine Großgruppe unterrichtete, öffnete sich für mich ein völlig neues Kapitel. Kooperationen zwischen Musikschulen und allgemeinbildenden Schulen waren damals noch weitgehend Neuland. Für einen Gitarrenlehrer, der bislang vorwiegend im Einzel- oder Kleingruppenunterricht gearbeitet hatte, bedeutete der Unterricht mit einer großen Kindergruppe einen regelrechten Sprung ins kalte Wasser. Plötzlich galt es, sich mit Situationen und Herausforderungen auseinanderzusetzen, die im gewohnten Rahmen des Musikschulunterrichts kaum vorkommen.
Diese Erfahrungen stellten für mich zwei wesentliche Fragen in den Vordergrund:
Meine Tätigkeit als Feldenkrais-Pädagoge hat mir gezeigt, dass in jeder Gruppe ein enormes kreatives Potential steckt. Kinder bringen eine natürliche Neugier und Unbefangenheit mit, die es zu fördern gilt, anstatt sie durch starre Vorgaben einzuschränken.
In einer geschützten, offenen und improvisationsfreudigen Atmosphäre, sollte es möglich sein, dieses Potential nutzbar zu machen.
Die Feldenkrais-Methode, benannt nach Dr. Moshe Feldenkrais (1904–1984), basiert darauf, durch bewusst gewählte Bewegungsübungen das eigene Potenzial zu erweitern. Viele der von Feldenkrais entwickelten Lektionen haben ihren Ursprung in der kindlichen Bewegungsentwicklung. Diese Erkenntnis ist auch im musikalischen Kontext wertvoll: Musik entsteht durch Bewegung, und wer sich seiner Bewegungen bewusst ist, kann auch seine musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten erweitern.
In einer Unterrichtsstunde hatte ein Schüler keine Lust, das aktuell angesagte Lied mit der Gruppe zu spielen. Stattdessen improvisierte er spontan eigene Töne. Obwohl er nicht der erwarteten Melodie folgte, ergaben seine frei erfundenen Klänge – rhythmisch und harmonisch – eine Art Begleitung. Anstatt ihn zu tadeln, entschied ich mich, seinen kreativen Ansatz hervorzuheben:
„Habt ihr bemerkt, was er gerade getan hat? Er hat nicht die vorgegebene Melodie gespielt, sondern eine eigene Begleitung erfunden. Probiert es doch auch einmal aus!“, woraufhin ein wahre Ideenflut für mögliche Begleitungen - auch von anderen Schülerinnen und Schüler erfolgte!
Diese Situation zeigt, dass es sich lohnt, individuelle Impulse zuzulassen und in einer respektvollen Atmosphäre zu fördern – ohne dabei in ein lautes, unstrukturiertes Chaos zu verfallen.
Aus meinen Studien zu unterschiedlichen Improvisationskonzepten erinnerte ich mich an ein „Geheimrezept“: Handicap-Übungen. Dabei werden den Schülern bewusst Einschränkungen auferlegt, um sie zu zwingen, neue Lösungen zu finden. Beispiele solcher Übungen sind:
Diese eingeschränkten Rahmenbedingungen fördern nicht nur technische Fertigkeiten, sondern öffnen auch den Raum für unkonventionelle und kreative Lösungswege – ein Ansatz, der in seiner Wirksamkeit stark an die Prinzipien der Feldenkrais-Methode erinnert.
Da herkömmliche Gitarrenschulen den spezifischen Anforderungen des Großgruppenunterrichts oft nicht gerecht werden, entschied ich mich, neue Wege zu beschreiten:
Die Entscheidung, ohne festes Material und vorgegebene Lehrbücher zu arbeiten, führte mich in zahlreiche Situationen, in denen ich zunächst unsicher war, wie der nächste Schritt aussehen sollte. Die Wünsche und Vorstellungen der Schüler waren teils unrealistisch, und meine eigenen Erwartungen waren noch stark von den Vorgaben Dritter (Eltern, Kollegen, Schulleitung) geprägt. Doch jede Unterrichtsstunde brachte neue Fragen und Herausforderungen mit sich, die mich dazu anregten, fortlaufend neue musikalische Experimente und Spielideen zu entwickeln.
Mit der Fokussierung auf die G‑Saite und den alternativen Notationsweisen setzte ein entscheidender Wendepunkt ein:
Die Schüler fanden leichter zu den richtigen Tönen, und innerhalb kürzester Zeit gelang es ihnen, Melodien zu spielen, die nach traditionellen Konzepten oft Jahre des Übens erfordern würden. Bereits bald waren auch Lieder in verschiedenen Tonarten – etwa A‑Dur oder a‑moll – realisierbar, und der Einstieg in das zweistimmige Spiel war möglich. Die einfache visuelle Unterstützung und das unmittelbare Feedback führten zu einer regelrechten Dynamik, bei der aus kleinen Fortschritten immer größere musikalische Errungenschaften entstanden.
Die kontinuierlichen Erfolgserlebnisse und die überwältigende Fülle neuer Möglichkeiten motivierten mich, meine Ideen systematisch zusammenzutragen. So entstanden im Laufe der Zeit die Scolopender-Schülerhefte, die weit über die reine Einführung in Melodie- und Akkordspiel hinausgehen. Diese Hefte bieten einen kindgerechten Zugang zu zahlreichen Themen, die in traditionellen Gitarrenschulen oft nur am Rande behandelt werden:
Komponieren eigener Lieder und Stücke:
Übungen, die den kreativen Ausdruck fördern und den Schülern ermöglichen, eigene musikalische Ideen zu entwickeln.
Anleitungen zur Improvisation:
Methoden, um spontan und ohne feste Muster zu musizieren und so den eigenen musikalischen Ausdruck zu erweitern.
Experimente und Koordinationsspiele:
Spezielle Übungen zur Verbesserung der Fingerkoordination, die zugleich spielerisch den Zugang zu neuen Techniken eröffnen.
Fingerspiele und Greifübungen:
Vorbereitende und begleitende Übungen, die das Erlernen und Greifen einzelner Töne und Akkorde unterstützen.
Begleitende Selbstbeurteilungsprozesse:
Instrumente, die es den Schülern ermöglichen, ihre eigene Entwicklung kritisch und positiv zu reflektieren.
Diese innovativen Ansätze stehen im Einklang mit modernen pädagogischen Forderungen, die vermehrt auf Selbsterziehung und Selbstorganisation im Unterricht setzen. Anstelle des traditionellen Frontalunterrichts rückt das selbstgesteuerte und gemeinschaftliche Erkunden in den Mittelpunkt – ein Trend, der auch in modernen pädagogischen Fachkreisen immer mehr Beachtung findet.
Während der Entwicklung meines Konzepts traten auch tiefgreifende Fragen auf, die sowohl pädagogische als auch entwicklungspsychologische und philosophische Aspekte berühren:
Im ersten Teil meines Lehrerhandbuchs gehe ich ausführlich auf diese Fragen ein. Ich spanne einen Bogen von den ersten musikalischen Äußerungen in der Kindheit bis hin zu den vielfältigen Vorlieben unserer Schüler – sei es für klassische Klänge wie Mozart oder für moderne Einflüsse wie Metallica. Meine Absicht ist es, Sie als Lehrende dazu einzuladen, diese Überlegungen kritisch zu hinterfragen, eigene Erfahrungen einzubringen und daraus neue Schlüsse zu ziehen.
Die Gestaltung der Scolopender-Lehrerhandbücher folgt dem gleichen Prinzip wie die Schülerhefte:
Das schrittweise Erarbeiten der Lektionen ist möglich, jedoch nicht in jedem Fall sinnvoll. Einzelne Lieder, Übungen oder Inhalte können nach Ermessen ausgelassen oder übersprungen werden – insbesondere in den Bereichen „Akkorde“ sowie in der jeweils ersten und letzten Lektion eines Schülerheftes.
Der Name „Scolopender-Gitarrenschule“ fasst das gesamte Konzept in sich. „Scolopender“ ist das lateinische Wort für Hundertfüßler und verweist dabei auf zwei zentrale Aspekte:
Die Entwicklung der Scolopender-Gitarrenschule war ein stetiger Prozess des Lernens, Experimentierens und Anpassen. Jede Unterrichtsstunde, jedes improvisierte Element und jede neu gewonnene Erkenntnis trug dazu bei, den Kindern ein intensives und selbstbestimmtes Musikerlebnis zu ermöglichen. Meine Erfahrungen als Gitarrenlehrer und Feldenkrais-Pädagoge haben mir gezeigt, dass es sich lohnt, Grenzen gemeinsam zu erforschen und neu zu definieren – statt sie starr vorzugeben.
Ich lade Sie als Lehrende ein, diese Überlegungen und Ansätze kritisch zu hinterfragen, eigene Erfahrungen einzubringen und das kreative Potential Ihrer Schüler zu entfalten. Möge die Scolopender-Gitarrenschule auch Ihnen und Ihren Schülern viele freudige, inspirierende und spannende Stunden bescheren.
Musikalische Grüße,
Claus Krogmann